Dieser Meditationsübung verdanke ich alles …

Dieser Meditationsübung verdanke ich alles …

Haben Sie schon einmal versucht, einfach nur nichts zu denken? Wenn es nicht gelingt – kein Wunder. Unser Geist schweift ständig ab und ist in seinen fixen Mustern eine Quelle von Leid. Es gibt jedoch Übungen, die helfen – und mein Leben verändert haben.

(Der ganze Artikel als PDF)

Nachdem ich so viele Geschichten, Religionen und Ideologien kritisiert habe, ist es nur fair, dass ich mich selbst in die Schusslinie begebe und erkläre, wie es jemandem, der so skeptisch ist, trotzdem gelingen kann, morgens freudig aufzuwachen.
Ich zögere ein wenig, das zu tun, zum Teil aus Angst vor zu großer Nachsicht gegenüber mir selbst, zum Teil, weil ich nicht den falschen Eindruck vermitteln möchte, als würde das, was bei mir funktioniert, bei jedem funktionieren. Ich bin mir durchaus bewusst, dass die Eigenheiten meiner Gene und Nervenzellen, meiner persönlichen Geschichte und meines Dharma nicht bei jedem zu finden sind. Aber vielleicht sollten die Leser zumindest wissen, welche Farben die Brille tönen, durch die ich die Welt sehe, und dabei meinen Blick und mein Schreiben verzerren. Als Heranwachsender war ich ein sorgenschwerer und rastloser Mensch. Die Welt erschien mir sinnlos, und auf die großen Fragen, die ich an das Leben hatte, bekam ich keine Antworten. Insbesondere verstand ich nicht, warum es in der Welt und in meinem eigenen Leben so viel Leid gab und was sich dagegen tun ließ. Alles, was ich von den Menschen um mich herum und aus den Büchern, die ich las, bekam, waren ausgefeilte Fiktionen: religiöse Mythen über Götter und Himmel,
nationalistische Mythen über das Vaterland und seinen historischen Auftrag, romantische Mythen über Liebe und Abenteuer oder kapitalistische Mythen über Wirtschaftswachstum und darüber, inwieweit mich Einkaufen und Konsumieren glücklich machen.
Ich merkte durchaus, dass all das wahrscheinlich Fiktionen waren, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich die Wahrheit finden sollte.

Als ich an der Universität zu studieren begann, glaubte ich, das wäre der ideale Ort, um Antworten zu finden. Doch ich wurde enttäuscht. Die akademische Welt versorgte mich mit eindrucksvollen Instrumenten, mit denen ich all die Mythen, die die Menschen je geschaffen haben, dekonstruieren konnte, aber zufriedenstellende Antworten auf die großen Fragen des Lebens bekam ich nicht. Im Gegenteil, die Universität ermunterte mich dazu, mich auf immer enger gefasste Fragen zu konzentrieren. Am Ende schrieb ich an der Universität Oxford eine Doktorarbeit über autobiografische Texte mittelalterlicher Soldaten (https://boydellandbrewer.com/renaissance-military-memoirs-hb.html). Daneben las ich, quasi als Hobby, jede Menge philosophischer Bücher und führte viele philosophische Debatten, aber das verschaffte mir zwar fortwährende geistige Unterhaltung, jedoch keine wirklichen Einsichten. Es war extrem frustrierend. Schließlich schlug mein guter Freund Ron vor, ich sollte zumindest für ein paar Tage all die Bücher und die intellektuellen Diskussionen beiseitelassen und es mit einem Vipassana-Meditationskurs (https://www.dhamma.org/de/index) versuchen. („Vipassana“ ist Pali, eine Sprache des alten Indiens, und bedeutet „Einsicht“.) Ich dachte, das sei irgendein esoterischer Hokuspokus, und da ich kein Interesse daran hatte, eine weitere Mythologie kennenzulernen, lehnte ich dankend ab. Doch nach einem Jahr geduldigen Bohrens hatte er mich im April 2000 dann endlich so weit, dass ich mich in einen zehntägigen Vipassana-Retreat begab. Bis dahin wusste ich recht wenig über Meditation und war der Ansicht, dazu gehörten alle möglichen komplizierten mystischen Theorien. Wenn der Atem einströmt Ich war deshalb erstaunt, dass sich der Kurs als sehr praxisorientiert erwies. Unser Lehrer, S. N. Goenka, brachte den Teilnehmern bei, im Schneidersitz und mit geschlossenen Augen dazusitzen und die gesamte Aufmerksamkeit auf den Atem zu richten, der durch die Nase in den Körper strömt und wieder hinausfließt. „Tue nichts“, sagte er immer wieder, „versuche nicht, den Atem zu kontrollieren oder auf eine besondere Weise zu atmen. Nimm einfach nur die Wirklichkeit des gegenwärtigen Augenblicks wahr, wie auch immer er sein mag. Wenn der Atem einströmt, bist du dir einfach nur bewusst – jetzt strömt der Atem herein. Wenn der Atem hinausfließt, bist du dir einfach nur bewusst – jetzt fließt der Atem hinaus. Und wenn du die Konzentration verlierst und dein Geist damit beginnt, zu Erinnerungen und Fantasien abzuschweifen, bist du dir einfach bewusst – jetzt schweift mein Geist vom Atem ab.“ Das war das Wichtigste, was jemals irgendjemand zu mir gesagt hatte. Wenn Menschen die großen Fragen des Lebens stellen, haben sie in der Regel absolut kein Interesse daran, sich des Atemflusses bewusst zu werden. Vielmehr wollen sie Dinge wissen wie etwa, was passiert, wenn wir tot sind. Doch das eigentliche Rätsel des Lebens ist nicht, was geschieht, wenn wir tot sind, sondern was geschieht, bevor wir sterben. Wer den Tod verstehen will, muss das Leben verstehen. Die Menschen fragen: „Wenn ich sterbe, werde ich dann einfach völlig verschwinden? Werde ich in den Himmel kommen? Werde ich in einem neuen Körper wiedergeboren werden?“ Diese Fragen beruhen auf der Annahme, es gebe ein „Ich“, das von der Geburt bis zum Tod Bestand hat, und die Frage lautet: „Was wird im Moment des Todes mit diesem Ich passieren?“ Aber was ist das, das von der Geburt bis zum Tod Bestand hat? Der Körper verändert sich in jedem Augenblick, das Gehirn verändert sich in jedem Moment, der Geist verändert sich in jedem Augenblick. Je bewusster man sich selbst wahrnimmt, desto offensichtlicher wird, dass nichts auch nur von einem Moment bis zum nächsten Bestand hat. Was also hält dein ganzes Leben nicht zusammen? Wenn Sie die Antwort darauf nicht kennen, verstehen Sie das Leben nicht, und Sie haben mit Sicherheit keinerlei Chance, den Tod zu begreifen. Falls und wenn Sie je herausfinden, was das Leben zusammenhält, wird auch die Antwort auf die große Frage des Todes offenkundig werden. Die Menschen sagen: „Die Seele hat von der Geburt bis zum Tod Bestand und hält deshalb das Leben zusammen“ – aber das ist nur eine Geschichte. Haben Sie je eine Seele wahrgenommen? Sie können das in jedem Augenblick erkunden, nicht nur im Moment des Todes. Wenn Sie nachvollziehen können, was mit Ihnen geschieht, wenn ein Augenblick endet und ein anderer Augenblick beginnt – dann werden Sie auch verstehen, was mit Ihnen im Augenblick des Todes geschehen wird. Wenn Sie sich für die Dauer eines einzigen Atemzugs wirklich selbst wahrnehmen können – dann werden Sie all das verstehen. Das Erste, was ich lernte, als ich meinen Atem bewusst wahrnahm, war, dass ich trotz all der Bücher, die ich gelesen, und all der Seminare, die ich an der Universität besucht hatte, so gut wie nichts über meinen Geist wusste und nur ganz wenig Kontrolle über ihn besaß. Trotz aller Bemühungen konnte ich die Realität meines Atems, der in mich hineinströmt und wieder aus mir hinausfließt, nicht länger als zehn Sekunden bewusst wahrnehmen, bevor der Geist abschweifte. Seit Jahren lebte ich mit der Vorstellung, ich sei der Herr über mein Leben und der CEO meiner persönlichen Marke. Doch ein paar Stunden Meditation reichten, um mir deutlich zu machen, dass ich nahezu keine Kontrolle über mich selbst hatte. Ich war nicht der CEO – ich war allenfalls der Türsteher. Ich wurde gebeten, mich an die Tür zu meinem Körper zu stellen – an die Nasenlöcher – und einfach nur wahrzunehmen, was dort hereinkommt oder hinausgeht. Doch nach ein paar Momenten verlor ich meine Aufmerksamkeit und verließ meinen Posten. Diese Erfahrung öffnete mir die Augen. Warum uns Trumps Tweets berühren Im weiteren Verlauf des Kurses wurde den Teilnehmern beigebracht, nicht nur ihren Atem wahrzunehmen, sondern auch Empfindungen überall in ihrem Körper. Keine besonderen Empfindungen des Glücks und der Ekstase, sondern eher ganz banale und gewöhnliche Empfindungen: Wärme, Druck, Schmerz und so weiter. Die Vipassana-Technik beruht auf der Erkenntnis, dass der Geistesfluss eng mit körperlichen Empfindungen verbunden ist. Zwischen mir und der Welt sind immer körperliche Empfindungen. Ich reagiere nie auf Ereignisse in der äußeren Welt; ich reagiere stets auf die Empfindungen in meinem eigenen Körper. Wenn die Empfindung unangenehm ist, reagiere ich mit Ablehnung. Ist die Empfindung angenehm, reagiere ich mit Verlangen nach mehr. Selbst wenn wir glauben, wir würden auf das, was jemand anderer getan hat, auf Präsident Trumps neuesten Tweet (/wirtschaft/article179156676/Donald- Trumps-Anteil-am-Erfolg-von-Twitter.html) oder auf eine ferne Kindheitserinnerung antworten, reagieren wir in Wirklichkeit auf unsere unmittelbaren körperlichen Empfindungen. Wenn wir darüber empört sind, dass jemand unsere Nation oder unseren Gott beleidigt hat, sind es die Empfindungen eines Brennens in der Magengrube und eines Schmerzes, der sich wie ein Band um unser Herz legt, die die Beleidigung unerträglich machen. Unsere Nation fühlt nichts, aber unser Körper tut wirklich weh. Die sinnliche Realität der Wut Sie wollen wissen, was Wut ist? Nun, nehmen Sie einfach die Empfindungen wahr, die entstehen und durch Ihren Körper gehen, während Sie wütend sind. Ich war 24 Jahre alt, als ich diesen Kurs besuchte, und hatte zuvor vermutlich zehntausendmal Wut empfunden, aber ich hatte mich nie darum gekümmert, wahrzunehmen, wie Wut sich tatsächlich anfühlt. Immer wenn ich wütend gewesen war, hatte ich mich auf den Gegenstand meiner Wut konzentriert – etwas, das jemand getan oder gesagt hat – statt auf die sinnliche Realität der Wut. Ich glaube, dadurch dass ich in diesen zehn Tagen meine Empfindungen wahrgenommen habe, habe ich mehr über mich und über die Menschen allgemein gelernt als bis dahin in meinem ganzen Leben. Und damit das der Fall war, musste ich keine Geschichte, Theorie oder Mythologie übernehmen. Ich musste einfach nur die Realität wahrnehmen, wie sie ist. Meine wichtigste Erkenntnis war, dass die tiefste Quelle meines Leids in den Mustern meines eigenen Geistes liegt. Wenn ich etwas will und es geschieht nicht, reagiert mein Geist, indem er Leid erzeugt. Leid ist kein objektiver Zustand in der äußeren Welt. Er ist eine mentale Reaktion, die von meinem eigenen Geist erzeugt wird. Das zu erkennen ist der erste Schritt, um nicht noch mehr Leid zu erzeugen. © Axel Springer SE. Alle Rechte vorbehalten. Seit diesem ersten Kurs im Jahr 2000 begann ich damit, jeden Tag zwei Stunden zu meditieren, und jedes Jahr begebe ich mich einen oder zwei Monate lang in einen Meditations-Retreat. Das ist keine Flucht vor der Wirklichkeit. Es bedeutet im Gegenteil, mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen. Zumindest zwei Stunden am Tag nehme ich die Realität tatsächlich wahr, wie sie ist, während ich in den anderen 22 Stunden von E-Mails, Tweets und süßen Welpenvideos überhäuft werde. Ohne die Konzentration und die Klarheit, die mir diese Praxis verschafft, hätte ich „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ (https://www.randomhouse.de/Paperback/Eine-kurze-Geschichte-der- Menschheit/Yuval-Noah-Harari/Pantheon/e441313.rhd) oder „Homo Deus“ (https://www.chbeck.de/harari-noah-homo-deus/product/17388138) nicht schreiben können. Zumindest für mich geriet Meditation nie in Konflikt mit wissenschaftlicher Arbeit. Sie war vielmehr ein zusätzliches wertvolles Instrument im wissenschaftlichen Werkzeugkasten, insbesondere wenn es darum ging, den menschlichen Geist zu verstehen. Der Text ist ein Vorabdruck aus dem am 18. September bei C.H. Beck erscheinenden Buch „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ (https://www.chbeck.de/harari-noah-21-lektionen-21- jahrhundert/product/24603105)von Yuval Noah Harari.)

von Yuval Noah Harari

Quelle:

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