Spiritueller Wandel

Wir brauchen einen kulturellen und spirituellen Wandel. Aber wie soll das gehen?

Von Dirk C. Fleck.

Der Mann ist Professor für Umweltpolitik und Nachhaltige Entwicklung an der Yale University in New Haven (Connecticut), eine der renommiertesten Universitäten der Welt. Er war Chefberater der Nationalen Umweltkommission unter den US-Präsidenten Jimmy Carter und Bill Clinton. Aber erst jetzt ist bei ihm der Groschen gefallen. Sein Name: Gus Speth. In einem Interview mit der New York Times kommt Speth, der über Jahre hinweg in wichtiger Position vor einem drohenden Ökozid gewarnt hatte, zu einer nicht gerade ermutigenden Erkenntnis. „Früher dachte ich,“ so sein deprimierendes Statement, „dass die größten Umweltprobleme der Verlust der Artenvielfalt, der Kollaps der Ökosysteme und der Klimawandel wären. Ich dachte, 30 Jahre gute Wissenschaft könnte diese Probleme angehen. Ich habe mich geirrt. Die größten Umweltprobleme sind Egoismus, Gier und Gleichgültigkeit, und um mit ihnen fertig zu werden, brauchen wir einen kulturellen und spirituellen Wandel. Und wir Wissenschaftler wissen nicht, wie man das macht.“

Wenn man nicht ohnehin der Meinung ist, dass der Drops gelutscht ist, weil wir es bereits heute mit irreparablen Langzeitschäden zu Lande (Atommüll, Abholzung der Regenwälder, Verlust der Artenvielfalt, Pestizideinsatz in der Landwirtschaft), zu Wasser (Plastikschwemme) und in der Luft (Geoengineering) zu tun haben, muss man zumindest konzedieren, dass der Umbau unserer globalen Konsumkultur das wichtigste Ereignis in der Geschichte der Menschheit sein wird. Und, wie Gus Speth zurecht befürchtet, wird er wohl kaum zu stemmen sein.

Dabei hatten wir unsere Chance. Wir hatten sie immer. Wir konnten sie nur nicht nutzen, weil wir als politisches Gemeinwesen keine Idee besaßen, was und wer wir eigentlich sein wollten, jenseits unseres immer kümmerlicher werdenden Konsumentendaseins im Scheinpluralismus weniger Konzerne. Das Profitinteresse einer kriminellen Finanz- und Wirtschaftselite hat in den letzten Jahrzehnten jede vernünftige Problemlösung im Ansatz erstickt.

Wie ist es möglich, dass alle zerstörerischen Handlungen, die wir erleben müssen, von den Verantwortlichen als kreative Taten gefeiert werden? Die Bombardierung anderer Länder, der Bau von Staudämmen, das Versprühen von Insektiziden, die Erschaffung genmanipulierter Organismen – dies alles wird als notwendig, fortschrittlich und kreativ empfunden. Wir begreifen Gesundheit als Leistung der pharmazeutischen Industrie, wir verstehen soziale Sicherheit als etwas, was Polizei und Justiz herstellen. So ist es auf fast allen Gebieten: wir glauben ausschließlich an ordnungspolitische oder technische Lösungen. Warum ist das so? Weil unsere Gesellschaft dem Patriarchat gehorcht, dessen zentrale Werte Überlegenheit und Dominanz sind. Deshalb ist es außerordentlich wichtig, dass wir das weibliche Prinzip wieder zum Tragen bringen. In den Kulturen der indigenen Völker gilt die kreative Kraft der Natur als feminin. Die Anerkennung dieser Kraft macht uns dem Leben gegenüber demütig und lässt uns erkennen, dass wir nicht sein Meister sind. Wenn jeder Mensch bereit wäre, das weibliche Prinzip in sich wieder zuzulassen, würden wir erleben, dass Selbstversorgung, Selbstvertrauen und Selbstbestimmung ganz oben auf der politischen Tagesordnung stünden.

Jetzt aber haben wir den Salat. Den Menschen nun ins Bewusstsein zu bringen, dass sie nicht nur Kulturwesen, sondern auch Naturwesen sind, die verinnerlicht haben, dass die Natur ein Existenzrecht hat, unabhängig davon, ob sie etwas davon haben, ist eine Herkulesaufgabe, von der niemand weiß, wie sie bewerkstelligt werden kann. Dabei ist die Frustration gegenüber einem System, dass sich nur über kapitalistische Prinzipien zu definieren weiß, inzwischen riesengroß. Viele Menschen wollen es nicht mehr hinnehmen, dass jede ihrer produktiven Handlungen in ein globales Wirtschaftssystem gepresst wird, um einen Wert zu bekommen. Sie sehnen sich nach Identität. Ihre Identität finden sie nur, wenn sie ihre Probleme vor Ort angehen. Der einzige Weg, das globale Desaster in den Griff zu kriegen, sind weltweite lokale Lösungen. Das gilt es in erster Linie zu propagieren.

Professor Klaus Bosselmann (67) gilt als einer der wichtigsten Denker einer ökologischen Rechtsordnung. In einem Interview mit Geseko von Lübke (Politik des Herzens, Arun Verlag) sagte er folgendes: „Unsere Politiker sind geradezu geblendet von der Vorstellung, Wachstumszahlen zu produzieren und haben überhaupt kein Gefühl dafür, was die Menschen denn wirklich bewegt. Sie begreifen nicht, dass es eine Sinnkrise ist, die tiefer geht als die Enttäuschung über die schwierige Wirtschaftslage. Die Sinnkrise hat damit zu tun, dass die Ohnmacht der Politik immer stärker empfunden wird, wir aber nicht wissen, wie wir auf diese zunächst einmal als negativ erlebten Veränderungen reagieren sollen. Ich glaube also, dass wir tatsächlich am Beginn einer Zeit stehen, in der ökologische Inhalte überhaupt erst erfahrbar werden. Erst in Folge werden sie zu Wirtschafts- und Gesellschaftsformen führen, für die wir noch keine Begriffe haben. Es gibt sie, die Möglichkeit, dass wir aus der ökologischen Krise die entscheidenden Schlüsse ziehen und verstehen, dass wir die Umweltprobleme selbst geschaffen haben. Wir haben sie in unseren Köpfen, in unseren Selbstvorstellungen geschaffen, dort müsste auch der Schlüssel liegen, sie zu lösen.“

Bisher haben wir den Umweltschutz lediglich als Menschenschutz begriffen, bisher sprachen wir ausschließlich von Beständen, wenn von der Natur die Rede war. Wir machten in allem unsere Rechnung auf. Dieses Denken war nicht dem Leben verpflichtet, sondern einer Buchhaltungsmentalität. Die Erde ist ein lebendiges System, in dem alle Dinge miteinander verwoben und voneinander abhängig sind. Ist denn das so schwer zu verstehen? Wir alle leben von der Erde, sie ist unser Lebensspender. Glaubt denn jemand im Ernst, dass etwas, das Leben spendet, selbst ohne Leben ist? Erst wenn wir bereit sind, uns als Bestandteil eines lebendigen Erdkörpers zu verstehen, wird sich unsere Stellung in der Welt grundsätzlich verändern.

Eine solche Perspektive hat dramatische Folgen für unser inneres und kollektives Wachstum. Sie mag angesichts der herrschenden Probleme visionär und verträumt wirken, aber eine Gesellschaft, die keine Visionen entwickelt, ist nicht zukunftsfähig. Zum ersten Mal in unserer Geschichte sind wir mit der selbstverursachten Zerstörung aller biologischen Lebensgrundlagen konfrontiert. Keine Generation vor uns hatte eine solche Bedrohung auszuhalten.

Wir müssen uns also fragen: Was wollen wir? Wer sind wir? Was brauchen wir? Indem wir uns dies fragen, schulen wir nicht nur unsere Wahrnehmung, wir formulieren auch unsere Bedürfnisse neu. Es gibt inzwischen viele Menschen auf der Welt, die diesen Bewusstseinswandel vollzogen haben, und täglich werden es mehr. All das passiert in einem ungeheuren Tempo, und es passiert jetzt. Die Vertreter des alten Systems wissen das. Sie wissen, dass ihre Richtlinien, Normen und Werte nicht mehr funktionieren.

Ein solcher Wertezusammenbruch macht zunächst einmal Angst. Wir haben Angst vor Chaos und Anarchie, Angst davor, unterzugehen in diesem Endzeitszenario, in dem sich jeder gegen jeden zu behaupten versucht. Aber nicht wir sind dem Tode geweiht, es sind unsere alten Sicht- und Handlungsweisen die sterben. Im Grunde müssen wir heute zwei Aufgaben zugleich bewältigen: als Sterbebegleiter für ein abgewirtschaftetes System und als Geburtshelfer für eine neue Kultur. Wenn es uns gelingt, eine positive Zukunftsvision in uns erblühen zu lassen, dann werden wir sie in der praktischen Politik auch umsetzen können. Denn es wird nichts Neues durch uns in die Welt kommen, was nicht vorher in unserem Bewusstsein Gestalt angenommen hat.

Der US-amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau (1817 – 1862) notierte am 19.7.1851 in seinem Tagebuch folgende Sätze: „Ich bin vierunddreißig Jahre alt, und dennoch ist mein Leben beinahe ganz unentfaltet. Wie viel liegt da erst im Keim? Zwischen meinem Ideal und der Wirklichkeit herrscht oft ein solcher zeitlicher Abstand, dass ich sagen kann, ich sei noch nicht geboren.“

Gilt dies nicht für die Menschheit insgesamt? Sind wir nicht ebenfalls noch ganz unentfaltet? Und tragen wir als Menschenfamilie nicht auch den Keim des Verständnisses in uns, der uns, erst einmal erblüht, wieder eingliedert in die Schöpfung, die wir bisher nur zu beherrschen versuchten? Aber man kann nur etwas beherrschen wollen, von dem man sich grundsätzlich getrennt weiß. Mit diesem Missverständnis muss Schluss sein. Oder es ist Schluss mit uns.