Rudolf Steiner und Gemeinschaft (2)

Der Anthroposophische Sozialimpuls

Aus dem Buch „Der Anthroposophische Sozialimpuls“ von Dieter Brüll

„Der Sozialimpuls ist der Impuls der Mitte. Er entspringt aus dem, was wir im täglichen Leben «Herzenstakt» nennen, und der darum Takt» ist, weil er das Wesen des anderen in sich aufnimmt und dadurch die richtige Gebärde findet, die, weiterentwickelt, bis hin zu einem Insich-Hineinnehmen der ganzen Menschheit führt.“

Dieter Brüll

KAPITEL V
DAS SOZIALE URPHÄNOMEN

Insbesondere durch zwei Vorträge in «Die soziale Grundforderung unserer Zeit» (GA 186/1963/IV (PDF im Archiv) und VII (PDF im Archiv) hat Steiner sich ausführlich verbreitet über den Vorgang der menschlichen Begegnung: Der Mensch, der den anderen Menschen verstehen will, muss bereit sein, sich für einen Augenblick von diesem einschläfern zu lassen. Insoweit ist er sozial: Er gibt sein eigenes Bewusstsein auf, und das Wesen des andern erfüllt ihn. Sofort aber meldet sich sein asozialer Trieb, der den andern aus sich hinauswirft, um sich selbst im Bewusstsein zu behaupten: Der andere wird wieder zum Gegenüber, zum Objekt. Dieses Pendeln zwischen einem sozialen und einem notwendigen unsozialen Moment nennt Steiner in dem angeführten Vortrag (Seite 175) das «soziale Urphänomen», ein Ausdruck, über den die anthroposophische Sozialliteratur meines Wissens bis vor einigen Jahren einfach hinweggegangen ist.

(…)

In GA 186/1963/162 sagt Steiner, dass wir nur im Schlaf sozial sind und ansonsten nur dann, wenn wir aus dem Schlaf etwas in unser Tagesbewusstsein herüberretten. Wie können wir das verstehen? «Wir haben eben in unserem Schlafzustande statt unseres Ich, das draußen ist, den Geist in uns, der sonst die Welt durchsetzt und den wir im Wachen vertrieben haben durch unser Ich, das ein Teil von ihm ist» (GA 202/1970/176 (PDF im Archiv). Und das Gleiche gilt für die Weltastralität im Verhältnis zu unserem Astralleib. «Jeder, der um uns herum lebt, ist seinem inneren Lebenskern nach in voller, ungeteilter Einheit mit uns» (GA 54/ 1966/206 (PDF im Archiv). Auf der Ebene dieser Weltgeistigkeit und Weltastralität sind wir, sowohl nach dem Tode wie im Schlafe, ganz in den Mitmenschen drinnen (GA 239 / 1975/133). «Solange der Mensch kein Seher ist, vermischt sich sein im Schlaf herausgetretener Astralleib mit den übrigen» (GA 100/1967/200; vgl. dazu auch GA 181/1967/VII). Dieser Prozess fängt bereits bei der Begegnung an. «Wenn zwei Menschen sich gegenübertreten, so sind es zunächst die beiden Astralkörper, die sich gegenüberstehen in Liebe oder Hass, Wohlwollen oder Missfallen (…). Der Verkehr zwischen den Menschen ist ein fortwährender Austausch von Zuständen und Verhältnissen der Astral-Körper» (GA 93/1979/244; vgl. dazu auch GA 65/1962/479 und 652 über die Tendenz, sogar die äußerliche Form des anderen anzunehmen). Darum ist es für den sozial begabten Menschen so, wie Loeff in dem im 1. Kapitel zitierten Artikel darstellt: «Das Erscheinen eines menschlichen Antlitzes unterwirft uns einem Verdikt.»

Dem, was bei der Begegnung geschieht, kommen wir näher, wenn wir bei Steiner lesen: «Nur indirekt erlebt der Mensch (heute) etwas von seinem Ich: dann, wenn er mit anderen Menschen in Beziehung tritt und sich das Karma abspielt» (GA 187/1979/80). Wieder werden wir auf den Zusammenhang von Einschläfern und Karma hingewiesen. «Ganz besonders wird der Mensch sein Ich gewahr, wenn jene magische Beziehung zu den Menschen oder der Umgebung eintritt, die wir als Mitgefühl oder Mitleid bezeichnen (…). Denn wir fühlen etwas, was draußen in der Welt geschieht, was dort gefühlt, gedacht wird, in uns selber noch einmal, erleben etwas Geistig-Seelisches, was draußen geschieht, in uns selber mit» (GA 124/1963/144). 

Vertieft sich die Begegnung zum «Schlaf», dann erhebt sich das Ich zu der höchsten Stufe seiner Geistigkeit (GA 175/1961/97).

In dem Schlaf hört das Subjekt-Objekt-Bewusstsein auf. Wir schmelzen mit dem anderen Wesen zusammen. Die Wahrnehmung des andern «gibt uns derjenige Sinn, der es uns möglich macht, mit einem anderen Wesen so zu fühlen, sich eins zu wissen, dass man es wie sich selbst empfindet. Das ist, wenn man durch das Denken, durch das lebendige Denken, das einem das Wesen zuwendet, das Ich dieses Wesens wahrnimmt – der Ichsinn» (GA 170/1978/110).

Und erst «wenn er nicht nur sein eigenes Ich begreift, sondern ein anderes, wenn er einen Menschen innerlich ganz begreift, dann erst gehört er dem Menschenreich an» (GA 104/1979/198).

Über den Zusammenhang von dem Ichsinn und dem sozialen Urphänomen lesen wir weiter in GA 293/1932/127:
«Dass es ausgeführt werden kann, verdanken wir dem Organ des Ichsinns. Dieses Organ des Ichsinns ist also so organisiert, dass es nicht in seinem wachenden, sondern in einem schlafenden Wollen das Ich des andern erkundet – und dann rasch die Erkundung, die schlafend vollzogen wird, in die Erkenntnis hinüberleitet, (…) sodass ich die Wahrnehmung des andern wirklich einen Erkenntnisvorgang nennen kann, aber wissen muss, dass dieser Erkenntnisvorgang nur eine Metamorphose eines schlafenden Willensvorganges ist. (…) Wir leben nicht bewusst alles Erkennen, was wir im Schlafe erleben.»

Versuchen wir zusammenzufassen. Der zuhörende Mensch kann also, weil er einen Augenblick schläft, von dem Sprechenden erfüllt werden. Was in diesem lebt, kann dadurch auf jenen übertragen werden. Dass dieses sich nicht immer in allen Aspekten voll bewusst abspielt, tut der Wirklichkeit keinen Abbruch. Der Vorgang ist dann im Gegenteil sogar stärker. In einem trivialen Vergleich: Werbebilder, die in einen Film eingeblendet so schnell vorüberblitzen, dass unser Tagesbewusstsein sie nicht aufnehmen kann, sind, wie die Verkaufszittern beweisen, viel wirksamer als sich auf unser Tagesbewusstsein richtende Werbung.

Wir wollen den Prozess von (Reden und) Zuhören noch etwas genauer betrachten.

«Was dem naiven Bewusstsein so einfach dünkt, das Urteil zu bilden: ein Mensch spricht, ist in der Tat das Ergebnis sehr komplizierter Vorgänge. Diese Vorgänge spitzen sich dahin zu: in einem Laute, in welchem man sich erlebt, zugleich ein anderes Ich zu erleben. (…) Das ganze Mysterium des Mitgefühls mit einem fremden Ich drückt sich in dieser Tatsache aus (..). Der Mensch fühlt das eigene Ich in dem fremden. Vernimmt er dann den Laut des fremden Ich, so lebt das eigene Ich in diesem Laut und damit in dem fremden Ich. (…) Der Hörende (gibt) beim Laut eines Menschen sein Ich an ein fremdes Ich hin, beim Laut eines leblosen Gegenstandes nur an den Ton selbst, (GA 45/1970/160f.). Der Vorgang wird verstärkt, wenn man dem Sprechenden in Verehrung entgegentritt. «Sendet man den Gedanken der Verehrung einem anderen entgegen, so bietet man ihm dadurch die Gelegenheit, sein eigenes Wesen in diesen leeren Raum einströmen zu lassen» (GA 93/1979) 248 f.). Neid hingegen ist eine ganz gefüllte Form, «in die nichts mehr hineinkann». Inwieweit der soziale Prozess gelingt (und wir werden gleich noch auf seine Anomalien zu sprechen kommen), hängt also ganz davon ab, ob der Zuhörende «das Wort schon zum Urteil geführt hat, bevor es noch in die Seele gekommen ist» (GA 165/1981/224), oder es in Toleranz vernimmt (GA 54/1966/196).

In dem Vortragszyklus «Über die Dreigliederung des sozialen Organismus» (Brachenreuthe 1964, Privatvervielfältigung o. J.) nennt Karl König das Ohr das Organ des Menschen als soziales Wesen, das sich in unseren drei höchsten Sinnen darlebt. Mit ihnen – Sprachsinn, Denksinn und Ichsinn nehmen wir den Mitmenschen wahr; in ihnen finden wir die Grundlage, um die drei Gesellschaftssphären zu verchristlichen. In der Wahrnehmung des Mitmenschen spielt sich das soziale Urphänomen ab: es ist im Kleinen ein wirkliches Schlaferlebnis.

 

Nach diesem kurzen Blick auf die Ergebnisse der Geisteswissenschaft kehren Wir zu unserem Ausgangspunkt, dem sozialen Einschlafen und dem unsozialen Erwachen, zurück. Was geschieht dabei in der Seele der beiden Darsteller des sozialen Urdramas? Wir folgen dabei dem Vortrag vom 30. Januar 1921 (GA 207 / 1972 / 59 ff. (PDF im Archiv)).

Nachdem im vorhergehenden Vortrag (S. 39 (PDF im Archiv)) auf die soziale Bedeutung der Erörterungen aufmerksam gemacht wurde – «Sie müssen gewissermaßen sich aufgeben, sich an sie (die Worte des anderen Menschen) hingeben, damit Sie im Gehörten die Wesenheit des anderen Menschen wahrnehmen» -, lernen wir hier eine neue Tatsache kennen: Im Moment des Einschlafens steht vor dem Menschen jedes Mal für einen Augenblick seine Zukunft; in dem Moment des Aufwachens jedes Mal für einen Augenblick seine ganze Vergangenheit, beide bis in vergangene und künftige Inkarnationen hinein. Es sind Bilder, die durch ihre Kürze und das eintretende Tagesbewusstsein zwar ausgewischt werden, aber ihre Wirkung unterhalb dieses Tagesbewusstseins haben. Wenn im Gespräch der eine Mensch den anderen wirklich einschläfert, dann treten diese beiden Erlebnisse ebenfalls auf. Wieder begegnen wir im sozialen Prozess der Reinkarnation. Wenn der Einschläfernde den Eingeschläferten erfüllt, wird nicht nur dessen Zukunft und Vergangenheit, sondern auch die des Redners, des Einschläfernden, einen Augenblick vor ihm auftauchen.

(…)

Es soll jetzt versucht werden, die Art, wie Menschen nach Verständigung streben, anschaulich darzustellen. Wir werden da manchem begegnen, was uns aus Erfahrung bekannt ist. Was bisher aus der Theorie heraus gesagt wurde, liegt unserem Gefühlserleben viel näher, als wir meist denken. – Wir beginnen mit dem eigentlichen Gespräch, d. h. mit jener Idealform der Kommunikation, in der Rede und Gegenrede voll aufgenommen werden. Das wird in Abb. I zum Ausdruck gebracht:

Abb. I: Das soziale Urphänomen im Zweiergespräch – die eigentliche Begegnung

 

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Abb. 2: Die Gesprächspartner «kommen bei den anderen nicht an».

 

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Abb. 3: B redet «über A hinweg».

 

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Abb. 4: Intellektuelles Geplänkel – von einem Einschläfern kann nicht die Rede sein.

 

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Abb. 5: Man richtet sich an die Emotion des Gegenüber.

 

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Abb. 6: Hypnose – der Zuhörer wird zum Instrument.

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Aus dem Buch „Der Anthroposophische Sozialimpuls“ von Dieter Brüll

 

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Der Anthroposophische Sozialimpuls
Aus dem Buch „Der Anthroposophische Sozialimpuls“ von Dieter Brüll
KAPITEL V – DAS SOZIALE URPHÄNOMEN
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Der anthroposophische Sozialimpuls (PDF – 18 Seiten)