Integraler Yoga, Sri Aurobindo (II)

Mein Verständnis auf Yoga ist u.a. geprägt (siehe Yoga&Meditation) durch das integrale Yoga des Sri Aurobindo. Sri Aurobindo schlägt für mich die notwendige Brücke zwischen östlicher und westlicher Spiritualität. Der nachfolgende Artikel fasst dies sehr gut aus anthroposophischer Sicht zusammen.

Quelle: www.egoisten.de anthroposophy on the rocks
Author: Hand-Peter Dieckmann

weitere Artikel dazu im Blog:
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Der Integrale Yoga von Sri Aurobindo

Ein Überblick mit Anmerkungen aus meiner anthroposophischen Sicht (Hans-Peter Dieckmann)

Aurobindo (1872 – 1950) war ein Revolutionär, zunächst politisch im Kampf um die Unabhängigkeit Indiens von der englischen Kolonialherrschaft, später als Begründer des Integralen Yoga. Dabei war er in ein Elternhaus hineingeboren, das – vor allem vom Vater ausgehend – den Einfluss der indischen Kultur auf ihn und seine Brüder weitgehend ausschaltete. Der Vater, Dr. med. Krishna Dhan Ghose, hatte in England ein Zusatzstudium absolviert und war stark anglisiert in seine Heimat zurückgekehrt. So wuchs der junge Aurobindo mit Hindustani und Englisch auf, aber ohne seine bengalische Muttersprache. Im Alter von sieben Jahren wurde Aurobindo mit seinen Brüdern nach England geschickt, um dort die Schule zu besuchen, mit der ausdrücklichen Anweisung des Vaters, jeden Kontakt zu indischen Landsleuten zu unterbinden. In der Schule gewann er Preise in Geschichte und Literatur, unter anderem für seine Dichtungen in Latein und Griechisch. Durch ein Studium am King’s College in Cambridge wurde Aurobindos Aufenthalt in England abgeschlossen.
1893 kehrte er nach Indien zurück, um sich dort „aufgrund natürlicher Hingezogenheit zur indischen Kultur und indischen Lebensweise, aufgrund einer in meinem Temperament wurzelnden Gefühlsbestimmtheit und Bevorzugung alles Indischen“ (1) schnell einzuleben, wobei er auch Bengalisch lernte. Trotzdem entdeckte Aurobindo die reiche indische Kultur zugleich aus einem Abstand: ihre ideale Gestalt in ihren Heiligen Schriften und ihre Lebenspraxis als Verwaltungsbeamter, Staatsekretär, Hochschullehrer für Englisch sowie englische Literatur und schließlich als politisch Aktiver. Sein Abstand war aus seiner Wertschätzung von Elementen der europäischen (nicht nur der englischen) Philosophie gebildet, aber auch aus seinen Erfahrungen mit der englischen Pädagogik. So brachte er deren Impuls zur eigenständigen Auseinandersetzung mit dem Lehrstoff als Hochschullehrer ein, was für damalige indische Studenten sehr ungewohnt und zunächst sogar irritierend war, denn sie kannten es bloß, Vorlesungen in einer einseitigen Verehrungshaltung anzunehmen und auswendig zu lernen. Hat Aurobindo den Evolutionsgedanken, der in seiner Yoga-Lehre eine so große Rolle spielt, von Darwin und anderen europäischen Wissenschaftlern und Philosophen übernommen und spirituell weiterentwickelt? Es gibt zwar in der indischen Tradition Ansätze zu ihm, doch das scheint nahe liegend. Auf jeden Fall entdeckte Aurobindo die Kultur seiner Heimat nicht nur aus einer inneren Verwandtschaft, sondern auch mit einem Abstand und erst ab dem jungen Erwachsenenalter. Zu jedem Hineinwachsen in eine Kultur von Kind auf an macht das ja einen großen Unterschied, die Aufnahme ist deutlich bewusster.

Ich halte diese Schicksalsgegebenheit und Aurobindos spirituelle Kreativität für die Schlüssel zu seinem eigenständigen Umgang mit den alten Yoga-Lehren und –Wegen, über die er eindeutig hinausgegangen ist.

Grundhaltungen des Integralen Yoga

Es war Aurobindos politischer Kampf, der ihn zu den alten Yoga-Lehren und –Wegen führte, in der Hoffnung, durch sie seinen politischen Einsatz zu stärken. In Eigenregie begann er intensiv mit Pranayama-Übungen (Atemregulierungen) und erlebte als Folge eine Erhöhung seiner Gesundheit, seiner Gedächtnis- und schöpferischen Kräfte und sogar Anfänge von Hellsehen. Aber Aurobindo wollte noch mehr Stärkung und bat für sie Guru Lele um Hilfe. Mit der ihm eigenen Konsequenz befolgte er dessen Rat, seinen Geist durch eine Zurückweisung aller Gedanken in eine inhaltslose Bereitschaft zu versetzen, um eine innere Ruhe als Basis für weitere Entwicklungen zu erreichen. Doch „das erste Ergebnis war eine Reihe von erschreckend machtvollen Erfahrungen, die er – sein Guru – niemals beabsichtigt hatte. Sie ließen mich die Welt mit einer erstaunlichen Intensität als ein filmartiges Spiel leerer Formen in der unpersonalen Universalität des absoluten Brahman schauen …

Das war die Erfahrung des stillen, raum- und zeitlosen Brahman, und sie wurde erreicht, nachdem eine völlige und bleibende Stille des ganzen Bewusstseins eingetreten war. Zuerst war sie von dem Gefühl und der Wahrnehmung der völligen Unrealität der Welt begleitet. (2) Guru Lele wollte bei Aurobindo nur eine Klärung hervorrufen und meinte nun, diese Erfahrung sei vom Teufel und nicht von Gott geschickt, als er sah, dass er sie nicht mehr rückgängig machen konnte. Doch Aurobindo war sich seiner Erfahrung gewiss und setzte unbeirrt seinen Weg fort, was viel bedeutet, wenn man um die Stellung unbedingter Autorität von Gurus damals und selbst noch im heutigen Indien weiß. Lele gab ihm allerdings auch den weisen Rat, in Zukunft dem Führer im Inneren so vollständig zu folgen, wie er sich zunächst nach seinen Anweisungen gerichtet hatte. In dem Buch „Synthese des Yoga“ schrieb Aurobindo später über das Guru-/ Schüler-Verhältnis: „Auch das soll ein Kennzeichen (für einen Lehrer) des Integralen Yoga sein, dass er nicht für sich in einem menschlich eitlen und sein Ego hervorhebenden Sinn den Anspruch erhebt, ein Guru zu sein. Wenn er ein Werk zu leisten hat, ist es ihm von oben her anvertraut. Er selbst ist dessen Kanal, sein Träger oder Repräsentant. Er ist ein Mensch, der seinen Brüdern hilft; ein Kind, das Kinder anleitet; ein Licht, das andere Lichter anzündet; eine erwachte Seele, die andere Seelen erweckt; im besten Falle ist er eine Macht oder Gegenwart Gottes, der andere Mächte göttlichen Wesens zu diesem beruft.“(3) In der umfangreichen Korrespondenz mit seinen Schülern gab Aurobindo nicht nur Erklärungen, sondern trat mit ihnen auch immer wieder in Dispute. Die eigentliche Führung im Integralen Yoga ergibt sich aber eben aus der Hingabe an Gott. Für diese Hingabe kann man keine technischen Anleitungen wie etwa für Pranayama-Übungen geben, sie muss vor allem individuell als eine Glaubens- und Öffnungshaltung erbracht werden. Aurobindo erschloss sie sich im Gefängnis von Alipur 1908 während seiner Untersuchungshaft, in die er wegen Anstiftung zum Aufstand gegen die englische Kolonialmacht einsitzen musste – um schließlich freigesprochen zu werden. Nach seiner eigenen Aussage erhielt er in dieser Zeit von Gott selbst die Bhagavad Gita in die Hand und wurde dank Gottes Kraft dazu in die Lage versetzt, in seiner Zelle und während der Gerichtsverhandlungen nach der Gita zu üben. So lernte er wie einst der Krieger Arjuna von Krishna frei von Widerstreben und egoistischen Wünschen, gleichmütig gegen Erfolge und Niederlagen, gegen Freunde und Feinde Gottes Werk zu tun: in der Welt mit ihren zahlreichen Lerngelegenheiten und Aufgaben, die aus der Perspektive seines neuen Gotteserlebnisses einen tiefen Entwicklungssinn haben. Für Aurobindo überstieg diese personale Gottesbegegnung weit die mit dem unpersönlichen Brahman. Seine Gottesbeziehung als ein persönliches Verhältnis wurde leitend für die Entwicklung des Integralen Yoga, die ab nun sein (äußeres) politisches Engagement schnell abzulösen begann.

Der Integrale Yoga schließt alle alten Yoga-Lehren und –Wege ein, die man vereinfacht mit dem Yoga der Erkenntnis, dem Yoga der liebenden Hingabe, dem Yoga des Umgangs mit übersinnlichen Kräften (Siddhis) und dem Yoga der Tat zusammenfassen kann. Doch diese Yoga-Wege zielen vor allem auf einen Aufstieg aus dem irdischen Jammertal, das sie dann unverwandelt zurücklassen! Man kann sie oder Elemente von ihnen aufgreifen, um ihre Höhen zu erreichen, doch wie lässt sich das ganze Leben auf der Erde verwandeln? Die Aufstiegswege reichen dafür nicht aus, ja, man kann laut Aurobindo ihre Höhen sogar bis zu einem gewissen Grad verwirklichen und trotzdem in Teilen seines Wesens ungeläutert bleiben. Würde man aus dem Geist der alten Yoga-Lehren und –Wege eine Gesellschaft aufbauen, so Aurobindo, müsste man sie als eine pure Durchgangsgesellschaft gen Himmel oder Nirvana gestalten. Kurz: es müssen neue Einsichten, Liebesfähigkeiten, Kräfte und Handlungen durch und für eine bisher noch nie da gewesene Transformation erschlossen werden. Da diese Transformation das bisherige spirituelle Vermögen übersteigt, kann sie nach Aurobindo nur über einen Kontakt mit der höchsten göttlichen Macht gelingen, die es erst noch voll auf die Erde herab zu bitten gilt. Nicht der Aufstieg soll deshalb das Hauptziel seines Yoga sein, sondern die Herabkunft des Supramentalen, wie er das höchste personale Göttliche nannte, zu dem der Mensch durch seinen Yoga Zugang finden kann.

Für das Meditieren gab Aurobindo die Konzentration „auf“ die (nach seiner Erkenntnis) zwei Hauptzentren des Menschen an: das Herz und den Kopf, wobei er mit dem Herzen nicht das physische Herz meinte, sondern ein übersinnliches Zentrum in der Nähe der Brustmitte und mit Kopf eigentlich ein übersinnliches Zentrum ein Stück weit oberhalb der Schädeldecke. „Du musst das Bewusstsein an einer dieser Stellen verankern (gerne abwechselnd, meinte er zuvor) und dich nicht auf diese Stelle, sondern von dort aus auf das Göttliche konzentrieren“, schrieb er an einen Schüler laut dem Kompendium „Alles Leben ist Yoga“ (Kapitel: Helfer der Sadhana). Und weiter: „Die ganze Grundlage dieses Yoga ist, sich dem göttlichen Einfluss zu öffnen. Er ist über dir, und wenn du dir einmal seiner bewusst werden kannst, musst du ihn in dich hernieder rufen. Er kommt in den Geist und Körper als Frieden, als Licht, als eine wirkende Kraft, als die Gegenwart des Göttlichen in einer Gestalt oder gestaltlos, als Ananda (Seligkeit). Bevor man dieses Bewusstsein hat, muss man Glauben haben und nach dem Öffnen streben. Streben, ein Ruf, ein Gebet, sind Formen ein und derselben Sache, und alle sind wirksam. Du kannst diejenige Form wählen, die zu dir kommt oder dir am einfachsten erscheint.“ Insofern das Schwergewicht mehr auf der Konzentration als auf der Glaubensöffnung liegt, ist das Streben systematischer, aber nicht fixiert: „Meditation kann weitläufig sein, z.B. das Nachdenken über das Göttliche, das Empfangen und Unterscheiden von Eindrücken, das Beobachten, was in der menschlichen Natur vorgeht, das Einwirken darauf usw.“, wird Aurobindo in dem genannten Buch zitiert. Die Chakras werden beim Integralen Yoga (wie beim anthroposophischen Schulungsweg) grundsätzlich von oben nach unten aktiviert, um über die obere Erweckung, die mit der von Herzens- und Erkenntnisqualitäten einhergeht, für die schwierigeren Bereiche, z.B. die Sexualität, gerüstet zu sein. Neben der Öffnung zum Supramentalen gilt für beide Schwergewichte, „den Geist zur Ruhe zu bringen, zur Zeit der Meditation alle Gedanken zurückzuweisen und alle Regungen, die der Sadhana (Übung) fremd sind. Im ruhigen Geist wird eine fortschreitende Vorbereitung für die innere Erfahrung stattfinden. Doch du darfst nicht ungeduldig werden,
wenn all dies nicht sofort stattfindet. Es bedarf langer Zeit, um die vollkommene Ruhe in den Geist zu bringen; du musst damit fortfahren, bis das Bewusstsein bereit ist.“ Auch diese Anleitung stammt aus „Alles Leben ist Yoga“ (Kapitel: Helfer der Sadhana), wie auch der Hinweis, dass eine rückhaltlos wahrhaftige Selbsterkenntnis zur unerlässlichen Basis des Strebens gehört.

Ab 1926 zog sich Aurobindo vollständig aus der Öffentlichkeit zurück, nach seiner Erfahrung des Übermentalen bzw. des kosmischen Bewusstseins, das er mit allen Einsichten und Verwirklichungsmöglichkeiten als letzte Zwischenstufe zum Supramentalen begriff. In der Abgeschiedenheit seines Ashram-Zimmers wollte er sich von nun an seiner weiteren Yoga- Entwicklung widmen, um den Zugang zum von ihm damals erst mehr erahnten höchsten Göttlichen zu erschließen. Es spricht für die Integrität seiner Persönlichkeit, dass Aurobindo bis zu seinem Tod 1950 nie verkündet hat, dass ihm das ganz gelungen ist.

Bewusstseinsstufen des Integralen Yoga

Bei der Darstellung der Bewusstseinstufen des Integralen Yoga als ein Aufstieg bitte ich Aurobindos eigentliches Ziel, die Herabkunft des Göttlichen und die Verwandlung alles Irdischen, nie aus dem Blick zu verlieren. Auch in der Abgeschiedenheit seines Ashram- Zimmers, die ihm nun bessere okkulte Forschungsbedingungen bot, stand er weiterhin in der ganzen Welt und arbeitete seinen Yoga fortgesetzt aus: um zum Helfen in der Evolution anzuregen und anzuleiten, denn: „Die Evolution, die wir in dieser Welt sehen, ist ein langsamer und schwieriger Prozess und braucht ohne Zweifel gewöhnlich ganze Zeitalter, um bleibende Ergebnisse zu erzielen. Im Gegensatz dazu ist eine Evolution im Licht und nicht mehr in der Dunkelheit möglich, in der das evolvierende Wesen ein bewusster Teilhaber und Mitarbeiter ist. Und genau das ist es, was hier auf der Welt eintreten muss.“ (4) Aurobindo war sich nur zu klar, dass diesem Ziel die „dunkle Hälfte der Wahrheit“ gegenübersteht, wie er die Hindernisse in und um uns einmal nannte. Damit deutete er bereits an, dass er diese „dunkle Hälfte“ keineswegs als bloß übel auffasste, sondern in ihr die notwendigen Widersacher erkannte, die uns auf subjektive und objektive Schwächen als verdeckte Lichthinweise aufmerksam machen, unerbittlich wieder und wieder, wie man es empfinden kann, oder weiser als Entwicklungschancen angenommen. Selbst der groteskeste und abwegigste unserer persönlichen Irrtümer mit allen seinen Lebensfolgen enthält laut Aurobindo eben noch einen Funken Wahrheit, den es zu entbinden gilt – und der nur dann gefestigt wird, wenn man seine Dunkelheit durchschreitet und läutert. Das gilt aber auch für die objektiven Schwierigkeiten, die den uns gewöhnlich überbewussten und in sich reinen geistigen Sphären komplementär verbunden sind: jeder Himmel hat seine Hölle und die Höllen sind uns gewöhnlich ebenso wenig wie die Himmel bewusst. Doch wenn ein Integraler Yogi zu einem Himmel aufsteigt, sollte er sich wieder zurückwenden, um sein Wahr-Schön- Gutes und seine Macht in die ihm entsprechende niedere Region zu bringen. Für die Verwandlung der Materie reichen die Himmelskräfte alleine jedoch noch nicht, für diese Verwandlung braucht es die Kraft des Überhimmlischen, des Übermentalen oder kosmischen Bewusstseins und letztlich des Supramentalen. Nach Aurobindo wäre das wesentliche Merkmal der „ver-übergeistigten“ Materie eine Empfänglichkeit, die sie befähigt, bewussten Einsichten, Gefühlen und Willensimpulsen so zu folgen, wie etwa der Ton in der Hand eines modellierenden Künstlers. Wer selber einen spirituellen Schulungsweg geht, weiß, wie weit seine körperliche Verfassung von diesem Ideal entfernt ist. Anderseits: In was für körperlichen Verfassungen bis hin zum Aussehen würden wir uns dann heute wohl befinden!

Klar, Aurobindo hat reife Einwirkungen gemeint. Für die Darstellung der Bewusstseinsstufen oberhalb des heutigen Normalbewusstseins zitiere ich aus Aurobindos dreibändigem Werk „Das göttliche Leben“, Band 2, Kapitel: Der Aufstieg zum Supramentalen:

1. „Unser erster entscheidender Schritt aus unserer menschlichen Intelligenz, unserer normalen Mentalität hinaus ist ein Aufstieg in ein Höheres Mental, das keine Mischung von Licht und Dunkelheit oder Zwielicht mehr ist, sondern außerordentliche Klarheit des Geistes.
Seine Grundsubstanz ist ein Empfinden, das unser Wesen mit machtvoller vielfältiger Dynamik vereint, die eine Menge von Aspekten der Erkenntnis, von Methoden des Handelns, von bedeutungsvollen Formen des Werdens und allem gestalten kann, von dem es ein spontanes inneres Wissen besitzt. Darum ist es eine Macht, die vom Übermental ausgeht – aber das Supramental als letzten Ursprung besitzt -, von dem all die höheren Mächte herrühren. Ihr besonderer Charakter, ihre Bewusstseins-Aktivität, wird aber vom Denken beherrscht. Das Höhere Mental ist ein erleuchtetes Denk-Mental, das Mental eines aus dem Geist geborenen begrifflichen Erkennens. Der Charakter dieses größeren Mentals des Wissens ist eine All-Bewusstheit, die der ursprünglichen Identität entspringt. Sie besitzt die Wahrheiten, die die Identität enthält. Sie erfasst sie rasch, unwiderstehlich und vielfältig. Sie formuliert und realisiert ihre Wahrnehmungen wirksam durch die Selbst-Macht der Idee. Diese Art der Kenntnisnahme ist die unterste Stufe, die aus der ursprünglichen spirituellen Identität hervortritt, bevor die trennende Erkenntnis, die Grundlage der Unwissenheit, einsetzt. Darum ist sie die Erste, die wir antreffen, wenn wir aus dem begrifflichen, durch die Vernunft bestimmten Mental, unserer bisher bestorganisierten Erkenntnismacht innerhalb der Unwissenheit, in die Bereiche des Geistes emporsteigen. Das Höhere Mental ist der eigentliche spirituelle Urheber unserer begrifflichen mentalen Ideenbildung. Darum ist es natürlich, dass die bisher führende Macht unserer Mentalität, wenn sie über sich hinauskommt, zu ihrem unmittelbaren Ursprung weitergeht.“ Nach Aurobindo ist dieses höhere Denken nicht auf logische Schlussfolgerungen, die wie so oft im gewöhnlichen Bewusstsein von Prämissen und zahlreichen Daten ausgehen und eher langsam Schritt für Schritt vorankommen, angewiesen. Es ist mehr ein denkendes Erschauen und die Teilhabe an der „Selbst-Enthüllung ewiger Weisheit; es ist kein (wie sonst) erworbenes Wissen. Umfassende Aspekte kommen in unser Gesichtsfeld, in denen das emporsteigende Mental, falls es das will, nach früherer Art wie in einem Gebäude zufrieden wohnen kann. Soll aber ein Fortschritt erzielt werden, dann muss sich dieses Gebäude ständig in eine neue, umfassendere Struktur ausweiten.“

2. Das Subjekt der folgenden Stufe des Aufstiegs nennt Aurobindo das Erleuchtete Mental, „das nicht mehr ein Mental des höheren Denkens, sondern ein solches spirituellen Lichtes ist. Hier weicht die Klarheit der spirituellen Intelligenz, ihr ruhiges Tageslicht einer Strahlkraft, einem Glanz und einer Erleuchtung des Geistes: Ein Feuerwerk von Blitzen spiritueller Wahrheit und Macht bricht von oben her in das Bewusstsein ein. Es fügt der ruhigen weiten Erleuchtung und dem gewaltigen Herabströmen von Frieden, die das Wirken des umfassenderen begrifflich-spirituellen Prinzips charakterisieren oder begleiten, die feurige Glut der Verwirklichung und eine leidenschaftliche Ekstase des Wissens hinzu. Dieses Wirken wird im Allgemeinen vom Herabströmen eines innerlich sichtbaren Lichtes umhüllt. Denn hier ist zu beachten, dass, im Unterschied zu unseren gewöhnlichen Auffassungen, Licht nicht erster Linie eine materielle Schöpfung ist. Das Empfinden oder die Schau von Licht, die die innere Erleuchtung begleiten, sind nicht nur ein subjektives visuelles Abbild oder ein
symbolisches Phänomen: Licht ist in erster Linie eine spirituell erleuchtende und schöpferische Manifestation der Göttlichen Wirklichkeit. Materielles Licht ist dessen Folgeerscheinung, seine Repräsentation oder Umwandlung in Materie für die Zwecke der materiellen Energie. Bei dieser Herabkunft tritt auch eine größere Dynamik ein, ein „goldenes Drängen“, ein lichtvoller Enthusiasmus von innerer Kraft und Macht, der den (im Vergleich zu ihr nun selbst) verhältnismäßig langsamen und bedächtigen Prozess des Höheren Mentals durch das rasche, manchmal heftige, beinahe gewalttätige Ungestüm einer rapiden Umwandlung ersetzt. Das erleuchtete Mental wirkt nicht erster Linie durch Denken, sondern durch Schau. Denken (auch das höhere) ist hier nur eine untergeordnete Funktion, um das Geschaute auszudrücken.

Das menschliche Mental, das sich hauptsächlich auf das Denken verlässt, meint, dieses sei der höchste oder wichtigste Prozess der Erkenntnis. Aber in der spirituellen Ordnung ist Denken ein sekundärer, gar nicht unentbehrlicher Prozess … (Es ist) durchaus nicht unentbehrlich, um das Wissen zu empfangen und zu besitzen. Ein Bewusstsein, das sich auf Schau gründet, das Bewusstsein des Sehers, ist für die Erkenntnis eine stärkere Macht als das Bewusstsein des Denkers. Die wahrnehmende Macht innerer Schau ist größer und unmittelbarer als die wahrnehmende Macht des Denkens. Sie ist ein spiritueller Sinn, der etwas von der Substanz der Wahrheit erfasst, und nicht nur ihr Abbild. Sie umreißt zwar das Abbild, erfasst aber auch die Bedeutung des Bildes. Sie kann die Wahrheit in feiner und kühner offenbarender Darstellung, mit umfassenderem Verständnis und mehr Kraft zur Ganzheit verkörpern, als es das gedankliche Begreifen fertig bringt.“

3. „Diese beiden Stufen des Aufstiegs können sich ihrer Autorität nur dann erfreuen und ihre vereinte Vollständigkeit erlangen, wenn sie sich auf eine dritte Stufe beziehen. Denn von den höheren Gipfeln her, wo das intuitive Wesen daheim ist, beziehen sie das Wissen, das sie in Denken und Schau verwandeln und uns zur Umwandlung des Mentals herab bringen. Intuition ist eine Bewusstseins-Macht, die dem ursprünglichen Wissen durch Identität näher steht und mit ihm inniger verwandt ist. Sie ist immer etwas, das unmittelbar der verborgenen Identität entspringt. Wenn das Bewusstsein des Subjekts auf das Bewusstsein im Objekt trifft, es durchdringt und die Wahrheit dessen, das es berührt, sieht, fühlt und mit ihr schwingt, springt die Intuition wie ein Funke oder ein Blitz aus diesem Zusammenprall über. Es kann auch zu solchem Hervorbrechen eines intuitiven Lichtes kommen, wenn das Bewusstsein auch ohne ein solches Zusammentreffen, in sich hineinschaut und unmittelbar und innig die Wahrheit oder die Wahrheiten fühlt, die es dort gibt; oder wenn es Kräfte berührt, die hinter den äußeren Erscheinungen verborgen sind. Ferner wird der Funke, der Lichtstrahl oder das Aufflammen einer inneren Wahrheits-Wahrnehmung in ihren Tiefen entzündet, wenn das Bewusstsein der höchsten Wirklichkeit oder der spirituellen Wirklichkeit von Dingen und Wesen begegnet und mit ihr durch innigen Kontakt Einung erfährt. Diese nahe Wahrnehmung ist mehr als ein Schauen, mehr als ein Begreifen. Sie ist das Ergebnis einer eindringenden und offenbarenden Berührung, die sich als Teil ihrer selbst oder als natürliche Folge das Schauen und Begreifen enthält. Eine verborgene oder schlummernde Identität, die sich noch nicht ganz wieder gefunden hat, erinnert sich durch die Intuition an alles, was sie enthält, oder sie übermittelt uns ihre eigenen Inhalte, die innere Unmittelbarkeit ihres Selbst-Fühlens und ihrer Selbst-Schau der Dinge, ihr Licht der Wahrheit und ihre überwältigende automatische Gewissheit.“

Die Intuition, wie sie vorerst erschlossen ist, braucht nach Aurobindo aber noch eine Erweiterung: übergeordnete Intuitionen, um die zunächst auftretenden vielen einzelnen Intuitionen in einen umfassenden Zusammenhang zu bringen; und eine Ausdehnung ihrer reinigenden Wirksamkeit nach unten. Sie kann dann emporheben „und verwandelt in die eigene Substanz nicht nur das Mental des Denkens, sondern auch Herz, Leben, die Sinne und das physische Bewusstsein: Sie alle haben schon ihre intuitiven Kräfte, die aus dem verborgenen Licht abgeleitet sind. Die von oben herabkommende reinere Macht kann sie sämtlich in sich aufnehmen und jene tieferen Auffassungen des Herzens und Lebens und den Ahnungen des Körpers eine höhere Vollständigkeit und Vollkommenheit verleihen.“ Und doch stößt sie an Grenzen. Denn: „Die Basis des Unbewussten in unserer Natur ist zu riesig, zu tief und zu fest, als dass sie völlig durchdrungen, in Licht umgewandelt und durch eine niedere Macht der Wahrheits-Natur (welche selbst die Intuition noch ist) transformiert werden
könnte.“

4. „Der nächste Schritt des Aufstiegs bringt uns zum Übermental. Die Wandlung der Intuition kann nur Einführung zu die er höheren spirituellen Eröffnung sein. Wir haben aber gesehen, dass das Übermental, auch wenn es selektiv und in seinem Wirken nicht total ist, dennoch eine Macht des kosmischen Bewusstseins, ein Prinzip globalen Wissens ist, das ein delegiertes Licht aus der supramentalen Gnosis in sich trägt. Darum ist es nur dann möglich, dass wir in das Übermental aufsteigen und dieses zu uns herabkommt, wenn wir uns in das kosmische Bewusstsein ausweiten. Es genügt nicht, wenn sich der Einzelne intensiv nach diesen Höhen hin öffnet. Zum vertikalen Aufstieg zu den Gipfeln des Lichts muss eine umfassende horizontale Ausdehnung des Bewusstseins in die Totalität des Geistes hinzukommen. Zumindest muss das innere Wesen durch seine tiefere und weitere Bewusstheit bereits das vordergründige Mental und seinen begrenzten Horizont ersetzt haben. Es muss gelernt haben, in einer weiten Universalität zu leben.“ Was die Umwandlung der vorangegangenen Mental-Verfassungen ausmacht, beschreibt Aurobindo noch genauer: „Es kann viele Formulierungen des Übermental-Bewusstseins und seiner Erfahrung geben. Denn das Übermental ist ungemein formbar und ein Feld vielfacher Möglichkeiten. Anstelle des Empfindens, dass es sich ohne ein Zentrum und ohne Raumgebundenheit verstreut, können wir das Universum in uns selbst und als uns selbst erfahren. Aber auch hier ist das Selbst nicht das Ich (Ego). Es ist die Ausdehnung eines freien und rein wesenhaften Selbst-Bewusstseins. Oder es ist eine Identifizierung mit dem All. Diese Ausdehnung oder Identifizierung konstituiert ein kosmisches Wesen, ein universales Individuum. In dem einen Zustand des kosmischen Bewusstseins gibt es das Individuum, das in den Kosmos eingeschlossen ist, sich aber mit allem im Kosmos, mit den Dingen und Wesen, mit Denken und Empfinden, Freude und Kummer der Anderen identifiziert. Im anderen Zustand schließen wir die Wesen in uns selbst und ihr Leben als einen Teil unseres eigenen Wesens ein.“ Trotzdem mögen noch egozentrische Regungen andauern, vermerkt Aurobindo, die nun aber nur noch als Nebenströmungen oder wie ein Wellenkräuseln in den kosmischen Weiten auftreten. Der Körper bleibt bei diesem Erleben ein kleiner Stützpunkt oder noch weniger: ein Beziehungspunkt für eine ungeheure kosmische Instrumentalisierung – aus der heraus er dann aber einen neuen Wert erhält. „Die Umwandlung zum Übermental ist die letzte, alles Bisherige überhöhende Bewegung der dynamischen spirituellen Transformation. Es ist die höchst-mögliche statisch-dynamische Stufe des Geistes auf der spirituellen Mental-Ebene. Das Übermental nimmt den ganzen Inhalt der drei Stufen unter sich empor und erhebt ihre charakteristischen Wirkweisen zu ihrer höchsten und weitesten Macht. Es verleit ihnen dazu noch universale Ausdehnung von Bewusstsein und Kraft, harmonischen Zusammenklang von Wissen und vielfältigere Freude des Wesens. Gewisse Gründe, die in dem für es charakteristischen Zustand und seiner Macht liegen, verhindern aber, dass es die endgültige Möglichkeit der spirituellen Evolution ist. Es ist eine, wenn auch die höchste, Macht der niederen Hemisphäre.“

5. Aurobindos Angaben über das Supramentale sind von seinen Ausblicken als Übermental gewonnen, durch die er anfänglich mit dem supramentalen Göttlichen in Berührung kam. Er beschreibt es im Band 1 seines Werkes „Das göttliche Leben“ als nicht nur transzendent zum Ich, sondern auch zum Kosmos: das gewaltige Universum scheint ihm gegenüber nur noch wie ein winziges Bild vor einem unermesslichen Hintergrund dazustehen. Im Band 2 dieses Werkes fährt er gewissermaßen fort, wenn er zu dem Entwicklungsprozess dieses Universums mit allen seinen Wesen Richtung Gnosis schreibt: „Auf jeder Stufe des Prozesses soll sich eine größere Macht und ein höherer Grad von Gnosis etablieren, die immer weniger mit der lockeren, verstreuten, vermindernden und verdünnenden Substanz des Mentals vermischt ist. Alle Gnosis ist aber in ihrem Ursprung eine Macht des Supramentals. Das würde also bedeuten, dass ein halb verhülltes und mittelbares supramentales Licht mit seiner Macht immer stärker in die Natur einströmt. Das soll fortdauern, bis der Punkt erreicht ist, da das Übermental selbst anfängt, in das Supramental verwandelt zu werden. Nun könnten das Bewusstsein und die Kraft des Supramentals selbst die Transformation übernehmen. Sie würden dem irdischen Mental, Leben und körperlichen Wesen ihre spirituelle Wahrheit und
Göttlichkeit enthüllen und schließlich in die ganze Natur das vollkommene Wissen, die Kraft und den Sinn supramentalen Seins einströmen lassen. So würde die Seele die Grenzen der Unwissenheit überschreiten und die Linie des ursprünglichen Aufbruchs aus dem höchsten Wissen kreuzen. Sie würde in die Vollständigkeit der supramentalen Gnosis eintreten. Die Herabkunft des gnostischen Lichtes würde die vollständige Umwandlung der Unwissenheit bewirken.“ Erst dann kann die angestrebte Transformation ihre volle Erfüllung finden: als Basis für neue Entwicklungen, so Aurobindo, wie er einmal Mahatma Gandhi auf dessen Frage nach dem Weg zu einer von ihm angenommenen absoluten Verwirklichung mitteilen ließ.

Ab 1926 übernahm Mirra Alfassa (1878 – 1973), Aurobindos spirituelle Partnerin, die Organisation seines Ashrams und wurde von 1950 an bis zu ihrem Tod auch die leitende Ratgeberin für den Integralen Yoga. Ohne sie wäre Aurobindos Arbeitsrückzug nicht möglich gewesen.

Anmerkungen aus meiner anthroposophischen Sicht

Was für eine Biographie! Man mag auf meine eher spärlichen Informationen zu Aurobindos äußeren Lebenslauf verweisen, doch meine Darstellung seiner spirituellen Schulung und besonders seine ausführlich zitierten Selbstzeugnisse zum Integralen Yoga enthalten viel von seiner inneren Entwicklung, die auch nach 1926 immer mit dem äußeren Leben verbunden blieb: während des 2.Weltkrieges zum Beispiel nahm er okkult am Kampf gegen den Nationalsozialismus teil, in den er Deutschland gefallen sah, weil die Mehrheit seiner Bevölkerung die Doppelgängerprobe ihres Volkes nicht bestanden hatte. Mit einem Blick auf die ganz anderen Möglichkeiten der deutschen Kultur wusste Aurobindo, dass dies vermeidbar gewesen wäre. Seine Parteinahme enthält zwar ein Votum für die Demokratie, weil sie individuelle Spielräume bietet, doch seine Vorstellungen von einer Gesellschaftsordnung überschreiten weit das von den West-Alliierten Gebotene. Hier ist mir aber vor allem wichtig: sein Integraler Yoga ist nicht von seiner Biographie zu trennen und er schloss für ihn keine politische Tätigkeit aus, die Aurobindo – inzwischen weit über seinen indischen Patriotismus zu einem Weltgeist hinausgewachsen – gegebenenfalls mit übersinnlichen Mitteln fortsetzte. Doch viel intimer als anhand äußerer Ereignisse lässt sich aus Aurobindos Darstellung der Bewusstseinsstufen etwas von seinem geistigen Ringen nachvollziehen, was ich als eine Anregung des anthroposophischen Schulungsweges hier gerne unternommen habe. Diese Anregung zielt zunächst auf ein Verstehen. In was für einer Spanne von Heroismus und tiefer Demut spielte sich sein Streben ab: kühn alle Grenzen überschreitend, die für zahlreiche Menschen geradezu Tabus sind, wenn er es für geboten hielt, um andererseits wahrhaft zu Gott aufzublicken! Nur mit Heroismus hätte es Aurobindo wie Nietzsche mit seinem Fall in ein Machtmenschentum ergehen können, doch seine Vision vom Übermenschen schloss ein hoch entwickeltes Verständnis, Mitfühlen und Freilassen ein. Bei der Beurteilung Aurobindos bitte ich Anthroposophen sich daran zu erinnern, wie viel Positives Rudolf Steiner aus Nietzsches Zarathustra gedeutet hat. Aus Aurobindos Auseinandersetzungen kann ich viel leichter als aus denen von Nietzsche viele unmittelbare Bezüge zu den Stufen des anthroposophischen Schulungsweges herstellen, bis hinauf zur Arbeit auf der Ebene des (anthroposophisch formuliert) Geistmenschen, auf der es neben der Entwicklung der Intuition ganz ähnlich wie bei Aurobindo zum anderen Pol hin um Umwandlungen bis in den physischen Leib geht. Aurobindos zum Teil recht konkrete Schilderungen machen mir etwas von einer Seinsweise deutlich, die für die meisten Menschen noch in ferner Zukunft liegt. Was er mit vielen und keineswegs immer gelösten Problemstellungen vorweggenommen hat, erwuchs aus seiner Biographie: bei aller Beispielhaftigkeit unverwechselbar – und ist so gesehen auch im anthroposophischen Sinne ein moderner Einweihungsweg. Moderne Einweihungen sind eben Individuationswege, auf ihnen wird geschätzt, was man sich erringt, fort- und immer weiter fortgesetzt, wodurch etwas Neues aus einem selbst und der Welt entsteht, in der ein Evolutionsprozess stattfindet, der als Sinn auf Selbst- und Weltüberschreitung zielt. Auch als Anthroposoph kann ich sagen: Warum sonst sollte er in Gang gesetzt worden sein! Im Zeichen des Selbst-Bewusstseins, des Wissens um sich einschließlich der Möglichkeit der Vergegenwärtigung jeder Erkenntnisbildung, hängt für uns Menschen die Entwicklung immer stärker von unserer Initiative ab: auch wenn wir, wie Aurobindo, um göttliche Entwicklungshilfen bitten. Durch die Konstitution der Selbstvergegenwärtigung durchschauen wir ja (potenziell) unsere Motive und können (oder könnten) unsere Verantwortung und Handlungen bewusst selber schaffen, was von außen etwa durch offene Gesellschaftsformen, aber auch durch spirituelle Schulungsmethoden gefördert werden sollte, was ich durch den Integralen Yoga bei aller fördernden Höhe noch nicht voll erfüllt sehe. Gerade vom Gesichtspunkt der Selbstvergegenwärtigung finde ich einen mir wichtigen Unterschied zu Aurobindos Haltung, weil ich sie – ganz Anthroposoph – bedeutsamer als er einschätze. Während Aurobindo die Öffnung zu einer göttlichen Transzendenz für unerlässlich hielt, halte ich sie uns (keimhaft) bereits immanent. Oder (sinngemäß) mit dem frühen Rudolf Steiner ausgedrückt: Die höchste Gottesidee ist immer noch, dass sich die Gottheit in ihre Geschöpfe ganz ausgegossen hat, um so deren Evolution von innen zu lenken, die sie aber ab deren Erwachen zu einem Selbst-Bewusstsein im oben angedeuteten Sinne den Erwachten selbst überlässt, denn nun haben diese Geschöpfe ja ihre Göttlichkeit entdeckt und können sie frei betätigen. Bei uns Menschen wird die Göttlichkeit dabei menschlich und mit ihr unser Evolutionsprozess. Aurobindo meinte hingegen: „Die Evolution ist Gottes Plan mit der Menschheit. Wer im Yoga der Evolution dient, dient Gott. Nicht nach unserer eigenen Manifestation haben wir zu streben, nach der Manifestation des individuellen Egos, befreit von allen Schranken und Banden, sondern nach der Manifestation
Gottes. Unsere eigene spirituelle Befreiung, Vollendung und Fülle wird Frucht und Teil jener sein, aber nicht in irgendeinem ich-(bzw. ego-)zentrierten oder sich selbst suchenden Zweck.“ (5) Doch so wie der spätere Rudolf Steiner aus seiner übersinnlichen Forschung auf notwendige göttliche Evolutionshilfen von außen hinwies, besonders durch den Christus, durch welche die Rahmenbedingungen für die göttlich gewollte (natürlich nicht egoistische) eigenmenschliche Entwicklung schon bereitgestellt werden, gibt es bei Aurobindo auch viele Hinweise auf den Wert der menschlichen Selbstentfaltung, die sogar die über- und supramentale Welt verändert und bereichert. Jeder gerade zum Über- oder Supramental Erwachte ist bei aller Einheit mit dem Kosmos oder sogar Überkosmos neu und weiterhin einmalig.
Die Nähe von Aurobindos Bewusstseinsstufen zu denen bei Rudolf Steiner ist auffällig. Zu Aurobindos erster Stufe fiel mir sofort Rudolf Steiners Meditationsthema „Denkend empfinde ich mich eins mit dem Strom des Weltgeschehens“ ein. Auch Rudolf Steiner wies darauf hin, dass wir in meditativen Verfassungen keineswegs nur selber denken, sondern zugleich Weltgedanken aus höheren Regionen empfangen. Durch das bei der anthroposophischen Meditation vorangegangene oder gleichzeitige eigene meditative Denken hat man sich jedoch in eine geistige Ich-Präsenz versetzt, dank der man in alle höheren Stufen aufsteigen, sich souverän in ihnen bewegen und ihre Früchte hinunter tragen kann. Hier liegt meines Erachtens die Wurzel zu der von Aurobindo verschiedenen Evolutionsauffassung. Und doch kann man auch beim anthroposophischen Meditieren ein Emporgehobenwerden erleben, das durch ein Niedersenken von höheren Mächten zustande kommt, für die man sich vorher geöffnet hatte. Beim Integralen Yoga liegt die Betonung ja umgekehrt, aber ohne eine innere Stärke lassen sich bei ihm die Bewusstseinsstufen natürlich ebenso wenig gesund durchleben. In Aurobindos zweiter und dritter Stufe sind sofort die Imagination, Inspiration und Intuition im anthroposophischen Sinne zu erkennen, wobei die Inspiration allerdings nicht gesondert dargestellt wird, sondern nur als spontanes Verstehen von Imaginationen auftritt. Und wie Aurobindo wusste Rudolf Steiner von noch höheren Sphären, die er als übergeistig bezeichnete: die Welt der Vorsehung, die natürliche Heimat der Bodhisattvas, aus der die niederen übersinnlichen Welten bis hinab zum physischen Erdenplan ihre Leitimpulse erhalten, die jedoch letztlich auf die raum- und zeitlose Gotteswelt zurückgehen, zu er das Nirvana (6) bzw. den Heiligen Geist zusammen mit dem schöpferischen Logos oder Wort („Sohn“) und dem Urgott („Vater“) zählte. Die Frage, die sich vom anthroposophischen Standpunkt hier und schon lange aufdrängt, ist die nach Aurobindos Christus-Verständnis. Denn warum lag ihm soviel an der Herabkunft des Supramentalen, wenn der große Transformator seit dem Mysterium von Golgatha auf Erden schon am Wirken ist? Die Antwort ist einfach: Aurobindo hatte keine besondere Christus- Beziehung. Er vermutete für den Christus, der sich nach ihm „als der Sohn, der eins mit dem Vater ist“ verwirklichte, eine Teilinkarnation (7), die wie das Wirken anderer führender Spiritueller trotz ihrer unbezweifelbaren Größe nicht zu dem wünschenswerten Erfolg geführt hat. In der Gesinnung von Aurobindos Evolutionsauffassung: in seiner Liebe und Hinwendung zu allem Leben und in seiner Arbeit an der Transformation der Erde mit allen ihr verbundenen Wesen sehe ich jedoch viel vom Christus-Impuls mitschwingen.

Quellen und eine Anmerkung:

1 Sri Aurobindo, Monographie von Otto Wolf, Rowohlt – S. 35

2 ebd. – S. 36

3 Zitiert aus Das Weltbild der Yoga-Meister, Peter Michel, Aquamarin-Verlag – S. 160

4 Sri Aurobindo, Monographie von Otto Wolf, Rowohlt – S. 7

5 ebd. – S. 99

6 Das Nirvana sollte nicht mit der beim Meditieren hergestellten Bewusstseinsleere verwechselt werden, die für das Empfangen von Eindrücken so wichtig ist.

7 Briefe 2 von Sri Aurobindo, zitiert aus Das Weltbild der Yoga-Meister, Peter Michel, Aquamarin-Verlag – S. 262

Das Kompendium „Alles Leben ist Yoga“ ist im Otto Wilhelm Barth Verlag erschienen, „Das göttliche Leben“ von Sri Aurobindo im Verlag Hinder+Deelmann.